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Prof. Dr. Helen Schwenken
Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS)
Universität Osnabrück
Tel.: +49 541 969 4748
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Prof. Dr. Ulrike Krause
ulrike.krause@uni-osnabrueck.de
Dr. Franck Düvell
PRESSEMITTEILUNG, 19. Juni 2023
Weltflüchtlingstag 20. Juni 2023 – Beschlüsse zur Reform des europäischen Asylrechts widersprechen Erkenntnissen aus der Migrationsforschung
Kurz vor dem diesjährigen Weltflüchtlingstag haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Beschlüsse zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gefasst. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) kritisieren die Pläne.
Am 20. Juni findet jedes Jahr der Weltflüchtlingstag statt. Aktuell sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) weltweit mehr als 110 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie nie zuvor. Ein vergleichsweise kleiner Teil der Flüchtenden sucht um Schutz in der EU nach. Zu viele, finden die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Eineinhalb Wochen vor dem diesjährigen Weltflüchtlingstag haben sie sich auf eine gemeinsame Position zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Diese soll dazu beitragen, die Fluchtmigration in die EU zu reduzieren.
Wissenschaftler:innen am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück forschen seit langem zu Migration, Flucht und Grenzen. Sie kritisieren die Pläne, da diese zentralen Erkenntnissen aus der Migrationsforschung und der Asylpraxis an den EU-Außengrenzen widersprechen, Menschen- und Flüchtlingsrechte unterlaufen und die Krise der europäischen Migrations- und Asylpolitik nicht lösen werden.
„Die von Bundesinnenministerin Nancy Faeser als historischer Durchbruch gelobten Beschlüsse sind weder historisch, solidarisch oder neu noch praktikabel oder moralisch akzeptabel. Es handelt sich um alte Rezepte, die der Öffentlichkeit als neu verkauft werden, von denen wir aber aus Forschung und Praxis wissen, dass sie nicht funktionieren“, kommentiert Dr. Franck Düvell, Senior Researcher im Projekt Flucht- und Flüchtlingsforschung: Vernetzung und Transfer (FFVT), die Pläne zur Asylrechtsreform. Er kritisiert darüber hinaus, dass in den Beschlüssen keine Maßnahmen zur Seenotrettung im Mittelmeer enthalten seien. Seeunglücke mit vielen Toten würden nicht verhindert; stattdessen könne davon ausgegangen werden, dass die Migrationspraktiken riskanter würden und die Zahl der Toten eher noch steigen werde.
Prof. Dr. Ulrike Krause, Juniorprofessorin für Flucht- und Flüchtlingsforschung, hegt Zweifel an der von den EU-Minister:innen propagierten Kurzfristigkeit des Aufenthalts in den geschlossenen Asylzentren in den Außengrenzstaaten: „Entgegen der erhofften Kurzfristigkeit zeigen globale Entwicklungen und Forschungen, dass Geflüchtete häufig für Jahre in Lagern bleiben müssen. Dies würde voraussichtlich auch in den Asylzentren geschehen, da rechtstaatliche Asylverfahren zeitintensiv sind und neue Fluchtbewegungen aufkommen können. Bei einer Umsetzung der Pläne würden die Zustände in den Asylzentren rasch prekär werden.“ Das zeigten auch die Entwicklungen der vergangenen Jahre auf den griechischen Inseln in der Ägäis. Hier werden seit 2016 Schnellverfahren in mehr oder weniger geschlossenen Lagern angewendet. UN-Vertreter:innen bezeichneten die Lebensbedingungen in diesen Einrichtungen als „fürchterlich“ und als „Schande Europas“. Eine menschenrechtliche Ausrichtung europäischer Asylpolitiken lasse sich hier nicht erkennen, so Krause.
Prof. Dr. Helen Schwenken, Direktorin des IMIS, ergänzt: „Zu einer Entlastung der Staaten an den EU-Außengrenzen wie Griechenland und Italien werden die Reformen nicht führen. Völkerrechtswidrige Zurückschiebungen von Asylsuchenden – Pushbacks – drohen zuzunehmen.“ Kritisch sieht Schwenken in diesem Zusammenhang die Bemühungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten, bei der Migrationskontrolle mit Drittstaaten zu kooperieren, in denen Menschen- und Flüchtlingsrechte oft nicht gewahrt würden: „Aus der Türkei werden Geflüchtete nach Afghanistan abgeschoben, wo die islamistischen Taliban systematisch Menschenrechte verletzen, insbesondere die von Frauen; in Libyen landen Schutzsuchende in Haftzentren, in denen Folter, sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit an der Tagesordnung sind; und in Tunesien, welches in der deutschen Diskussion als ‚sicher‘ betrachtet wird, steigt seit rassistischen Äußerungen des Präsidenten im Februar die Gewalt gegen schwarze Menschen.“
Über die Pläne zur GEAS-Reform wird nun im sogenannten Trilog zwischen Kommission, Rat der EU und dem Europäischen Parlament verhandelt. Migrationsforscherinnen und -forscher am IMIS hoffen, dass das Reformpaket noch einmal aufgeschnürt wird. Dazu Migrationsrechtler Prof. Dr. Thomas Groß: „Aus rechtswissenschaftlicher Sicht bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der adäquate Zugang zu angemessenen rechtstaatlichen Verfahren gewährleistet wird. In verschiedenen Grenzstaaten fehlt eine hinreichend funktionsfähige Asyl-Verwaltung und -Gerichtsbarkeit. Damit brechen die Reformpläne mit grundlegenden Prinzipien des Flüchtlingsschutzes.“
Was haben die EU-Mitgliedstaaten beschlossen?
Die Beschlüsse zur Reform des GEAS sehen unter anderem vor, dass in Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen geprüft wird, ob ein Asylantrag grundsätzlich zulässig und begründet ist. Diese Verfahren betreffen insbesondere Menschen aus Ländern mit einer Schutzquote von unter 20 Prozent, aber auch Menschen, bei denen die Behörden annehmen, falsche Angaben zu machen, und Menschen, die über Drittstaaten eingereist sind, die als sicher eingestuft werden. Wird der Asylantrag für unzulässig oder unbegründet erklärt, sollen die Betroffenen unmittelbar in ihre Herkunftsländer oder in sogenannte sichere Drittstaaten zurückgeschickt werden. Die Entscheidung über den Asylantrag soll dabei binnen drei Monaten fallen. In dieser Zeit müssen die Schutzsuchenden unter haftähnlichen Bedingungen in geschlossenen Lagern verbleiben. Um die Staaten an den Außengrenzen zu entlasten, sollen jährlich mindestens 30.000 Schutzsuchende in andere EU-Mitgliedstaaten umverteilt werden. Staaten, die sich an der Umverteilung nicht beteiligen, müssen Ausgleichszahlungen leisten – entweder in Form eines Finanzbeitrags oder in Form von Personal zum Aufbau von Kapazitäten im EU-Asyl- und Grenzregime.