IMIS

Institute for Migration Research and Intercultural Studies


Osnabrück University navigation and search


Main content

Top content

Das IMIS-Graduiertenkolleg ›Migration im modernen Europa‹ in der dritten Förderperiode 2002-2005

Das von der DFG geförderte Graduiertenkolleg ›Migration im modernen Europa‹ wurde am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück seit dem 1. Oktober 1995 durchgeführt. Die dritte Förderperiode endete Mitte 2005.

Im Graduiertenkolleg wurden unter Beteiligung verschiedener Fachdisziplinen Migrationsprozesse und Wanderungsverhalten, Formen und Folgen der Einbeziehung bzw. Ausgrenzung von Migranten sowie Traditionen, aktuelle Verhaltensweisen und Regeln des Umgangs mit Zu- und Einwanderern in europäischen Staaten vergleichend untersucht. Die Fragestellungen des Graduiertenkollegs betrafen historische, aktuelle und zukünftige Entwicklungen und Probleme von Migration und Integration in einzelnen europäischen Regionen, Ländern und in Europa insgesamt. Der Untersuchungsraum umfasste die Staaten der Europäischen Gemeinschaft und ihrer assoziierten Mitglieder bei Berücksichtigung auch der Staaten, deren Einbeziehung auf mittlere Sicht zu erwarten ist. Fragestellungen, in denen kulturelle Lebensformen und interkulturelle Probleme im Eingliederungsprozess von Bedeutung sind, berücksichtigen ebenso Aspekte der Herkunftsländer der zugewanderten Bevölkerungen.

Die Promotionsvorhaben im Graduiertenkolleg waren mit ihren speziellen Fragestellungen schwerpunktmäßig einer der drei miteinander zusammenhängenden Leitperspektiven des Kollegs – ›Ethnizität‹, ›Stratifikation‹, ›kulturelle Lebensformen und Geschlechterverhältnisse‹ – zugeordnet, die für die Einzeluntersuchungen bei aller notwendigen Spezifizierung die  theoretischen Rahmenbezüge bereitstellen und gleichzeitig als Folie für ein adäquates Reflexionsniveau dienten. In diesen Bezugsrahmen bearbeiteten die Promotionsvorhaben Problemstellungen der Migration selbst, der Eingliederung von Migranten und der Gestaltung von Migrationsbedingungen, wie sie als Forschungsfelder umschrieben sind. Diese Forschungsfelder – Migration, Eingliederung und Gestaltung – stehen für die Prozesse der Ablösung aus der Herkunftsgesellschaft und der Bewegung in die Aufnahmegesellschaft, für die Auseinandersetzungsformen und das Ausmaß des Einbezugs in gesellschaftliche Teilsysteme und schließlich für die Bedingungen, Chancen und Grenzen von  Beeinflussungs- und Steuerungsversuchen von Migration und ihren Folgen, wie sie aktuell auch in den Diskussionen über die angemessene Fassung eines Zuwanderungsgesetzes Thema sind.

Migration als Zentralbereich der conditio humana ruft die verschiedensten Humanwissenschaften auf den Plan, sofern Migranten durch geographische Mobilität regional ungleich verteilte Partizipationschancen an Ökonomie, Recht, Politik, Ausbildung und Gesundheit wahrzunehmen versuchen. Migranten treffen auf etablierte soziale Strukturen, die sie auf der Basis gelernter Handlungsformen nutzen und modifizieren, die sie aber auch an der Wahrnehmung von Chancen hindern. Die Migrationsforschung ist insofern ein prädestiniertes Feld für interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten. Die im Graduiertenkolleg vertretenen Fachgebiete und Forschungsrichtungen: Demographie, Erziehungswissenschaften, Geographie, Geschichtswissenschaft, Geschlechterforschung, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaften, Soziologie und Sprachwissenschaft thematisieren Bestimmungsfaktoren, Begleitumstände, Rahmenbedingungen, Verlauf und Folgen von Migration unter den sie kennzeichnenden disziplinären Gesichtspunkten.

Das Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs umfasste in der dritten Förderperiode drei Schwerpunkte:

  1. Minderheiten, Integration, Gestaltung im internationalen Vergleich (im folgenden kurz: Minderheiten )
  2. Arbeitsmigration im Spannungsfeld von Nationalstaat, EU und (Welt-)Regionalisierung von Arbeitsmärkten (kurz: Arbeitsmarkt )
  3. Migration, Sozialstruktur und der Wandel sprachlicher Verhältnisse (kurz: Sprache).

Die Formierung von Minderheiten vollzieht sich unter historisch je unterschiedlichen Bedingungen und auf verschiedenen und ineinander verschachtelten Ebenen. Die nationalstaatlichen Handlungsspielräume, in vielerlei Hinsicht der lange Zeit definierende Bezugsrahmen der Sozialwissenschaften, sind in Europa auf vielfache Weise unter Druck geraten: von außen durch Prozesse der Globalisierung; von unten durch Prozesse der Regionalisierung und des 'Lokalismus'; von oben durch die Verlagerung nationaler Souveränitätsanteile auf die supranationale europäische Ebene; und von innen auf gleichsam doppelte Weise durch die soziale Entwertung der Staatsbürgerschaft einerseits und die Herausbildung von national multiplen oder 'transnationalen' bzw. 'transkulturellen' Identitäten andererseits. Mit Blick auf diese veränderte Rolle des Nationalstaates ist nicht nur nach den Folgen für die Integration von Minderheiten zu fragen, sondern auch danach, wie der Bezugsrahmen für Integration definiert ist. Dabei ist von einer steigenden Bedeutung von Herkunftsgemeinschaften und transnational artikulierten ethnischen Minderheiten auszugehen. Das hat Konsequenzen für die klassischen Assimilationsannahmen einerseits und für die in diesem Zusammenhang formulierten Assimilationstheorien in der Migrationsforschung andererseits.

Der Schwerpunkt Arbeitsmarkt ging von der im Rahmen der aktuellen Globalisierungsdiskussion auch in der Migrationsforschung vielfach übersehenen Beobachtung aus, dass gegenwärtige Entwicklungen an Prozesse anschließen, die lange vorher einsetzten. Die Interregionalisierung und Internationalisierung der europäischen Arbeitsmärkte verursachte, begleitete und war zugleich bereits Folge der wirtschaftlichen Integration Europas im Zuge der Industrialisierung. Bereits bis zum Ersten Weltkrieg war die Verflechtung der einzelnen Volkswirtschaften über Außenhandel, Kapitaltransfers und Arbeitswanderungen weit fortgeschritten. Der Erste Weltkrieg und der anschließende Ausbau des Interventionsstaates verursachte in diesen Bereichen Schübe der Desintegration. Gegenwärtig werden im Kontext der fortgeschrittenen europäischen Integration und des mit dem Ende des Kalten Krieges sich beschleunigenden Globalisierungsprozesses historische Migrationsmuster revitalisiert. Zudem ist Europa zu einem der großen Zuwanderungszentren der Welt geworden. Die vormaligen Auswanderungsländer des Südens haben sich zu Zuwanderungsländern gewandelt, bilden damit zugleich relevante Außengrenzen der EU und sind insbesondere von neuen Formen der illegalen Migration, der Armuts- und der Fluchtwanderung betroffen. Weder die Nationalstaaten noch die EU können internationale (Arbeits-)Migration noch vollständig kontrollieren. Auf dem Hintergrund der demographischen Struktur der europäischen Länder setzt zudem ein neuer Prozess des Konkurrierens um hochqualifizierte Arbeitskräfte und der Anwerbung von Migranten für expandierende Dienstleistungssektoren ein. Diese Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen ökonomischen und politischen Randbedingungen sind mit migrationsspezifischen Strukturbildungen verbunden, wie sie unter Stichworten wie Migrationsnetzwerke und transnationale Räumeseit einiger Zeit in der Migrationsforschung diskutiert werden, ohne dass ihre Bedeutung für einzelne Arbeitsmarktbereiche bereits gut erforscht wäre.

Der Forschungsschwerpunkt Sprache behandelte das Problem, dass Mehrsprachigkeit unter Bedingungen fortdauernder Migration kaum mehr zureichend als vorübergehend und damit vor allem als Angleichungsproblem von Migranten konzipiert werden kann. Mehrsprachigkeit bezeichnet vielmehr in einer wachsenden Zahl von sozialen Bereichen wie Schulen, Betrieben, Krankenhäusern, Sportvereinen, Gerichten, Wohnsiedlungen oder Einrichtungen der Sozialarbeit die Grundlage der Kommunikation und damit eine wesentliche Bedingung der Reproduktion dieser Sozialstruturen. Dies impliziert Sprachbewertungsprozesse, soziale Erwartungen der Angleichung und Assimilation, die Entstehung und Etablierung von Strukturen des Code-Switchings, der Entwertung von Kompetenzen, die Formierung von sozialen Kollektiven als ethnische Minderheiten entlang solcher Auf- und Abwertungsprozesse usw. Im Gegensatz zu dem Sachverhalt, dass die Partizipationschancen an den Sozialstrukturen der modernen Gesellschaft in erheblichem Ausmaß über Schriftlichkeit gesteuert sind, fokussiert die Migrationsforschung sprachlich nahezu ausschließlich die interaktiven Kommunikationsstrukten und Kompetenzen. Neben der Mehrsprachigkeit im eigentlichen (mündlichen) Sinne bezeichnet daher die Mehrschriftigkeit im Bereich der Migrationsforschung ein kaum untersuchtes Forschungsfeld, insbesondere wo diese durch unterschiedliche schriftkulturelle Traditionen, wie z.B. die islamisch-arabische gegenüber der christlich-lateinischen Tradition, artikuliert ist. Die skizzierten Zusammenhänge sind in ihrem empirischen Ausmaß wie in ihrer theoretischen Bedeutung weder für die Entwicklung von Sprachstrukturen noch für den Wandel der Sozialstruktur angemessen beschrieben.